Vernunft ist wichtiger als Autorität
Niemand will Besserwisser*innen, Moralist*innen, Diktator*innen und Gutmenschen
Niemand will von oben herab bevormundet und abwertend behandelt werden. Diktatorisches Befehlen und Anordnen mag im militärischen Rahmen unter akuten Kriegsbedingungen eine gewisse Berechtigung haben. In Friedenszeiten, unter Friedensbedingungen, kann und soll es anders sein: Hier können und sollen alle Bürger*innen ihr eigenes Leben in konstruktiver gegenseitiger Unterstützung und Wertschätzung miteinander achtsam vorsichtig und rücksichtsvoll in Ruhe und Gelassenheit frei von äußerem Druck und Bedrohungen selbstbestimmt gestalten. Damit lassen sich Schädigungen aller Art recht gut vermeiden. Diese Regelung entspricht der Menschenrechts-Ordnung. Dieser Vernunft gemäß ist § 1 der Straßenverkehrsordnung formuliert worden:
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
(2) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.
In Demokratien gehen die Menschen mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass immer und überall eine breite Palette an individuellen Wahlmöglichkeiten zu Verfügung steht, um mit konkreten Herausforderungen bestmöglich umgehen zu können. Stets gibt es eine beste Lösung, die sich daran erkennen lässt, dass sie vernünftig ist, indem sie das Allgemeinwohl, die Lebensqualität aller Menschen, in optimaler Weise unterstützt. Es gibt immer viele schlechtere, also unvernünftige, Alternativen dazu. Wer allen Ernstes meint und behauptet, es gäbe nur einen einzigen Weg, und nicht etliche Alternativen dazu, ist vermutlich entweder diktatorisch oder dumm oder von außen zu dieser Haltung bzw. Aussage gedrängt oder gezwungen worden. Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher (1925-2013) war berühmt-berüchtigt für ihre häufige Feststellung „there is no alternative“. Vielleicht genoss sie sogar das Prädikat „eiserne Lady“: Es betont berechenbare Starrheit und Sturheit als besondere Charakterstärke – verglichen mit lösungsorientierter Flexibilität, die als Schwäche erscheinen kann.
Das Allgemeinwohl fördernde Vorgehensweisen lassen sich am besten in Gesprächsrunden erarbeiten, in denen alle Positionen ernst genommen und erörtert werden, die sich in der Bevölkerung erkennen lassen. Ratsversammlungen und Parlamente wurden erfunden, um genau dieses zu leisten: optimale Lösungen zu entwickeln. In Demokratien sind solche Gremien die entscheidenden Instanzen. Dort kommt der Exekutive, also den Angehörigen der Regierung, keinerlei eigenes Entscheidungsrecht zu, sondern einzig und allein die Pflicht, für die sorgfältige Ausführung dessen zu sorgen, was das Parlament beschlossen hat. Staaten, in denen Präsident*innen oder Minister*innen Entscheidungen treffen und das Parlament entmachten, indem sie sich bei ihrer Meinungsbildung nicht von diesem beratend unterstützen lassen, sind nicht „demokratisch“, sondern despotisch.
Die Demokratie ist als Regierungsform erfunden worden, weil Alleinherrscher*innen in der Regel an der Aufgabe scheitern, stets alle wichtigen Gesichtspunkte bei ihrer Entscheidungsfindung angemessen zu berücksichtigen. Um für eine solche Berücksichtigung zu sorgen, gibt es in Demokratien Regeln, an die sich alle Abgeordneten zu halten haben. Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 formuliert im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die wichtigste Regel dazu: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Das freie Mandat dient der Sicherstellung der Grundrechte der Parlamentarier*innen. Mithin ist sorgfältig darauf zu achten, dass die Parlamentarier*innen gemäß ihren Freiheitsrechten handeln, also ihre Entscheidungsfreiheit nicht durch Fraktionszwänge, Parteidisziplin, Kooperationen mit Lobbyisten oder Verpflichtungen sonstiger Art einengen lassen.
Sich an derartige Regeln zu halten, verhilft dazu, dass sich die persönlichen Qualitäten, über die politische Repräsentant*innen verfügen (bzw. nicht verfügen), so etwa ihr Ausmaß an (Aus)Bildung, Sachverstand, Vernunft, Ethik, Moral, möglichst nicht negativ auf das Wohl der Bevölkerung auswirken. Die Bürger wollen keine Repräsentant*innen, die ihnen vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben – nach welchen Wertvorstellungen, mit welchen Vorlieben, Prioritäten, Vorgehensweisen und Zielen. Sie wollen auch keine, die sich einer doppelten Moral bedienen: An Regeln, die für alle gelten, müssen sie sich auch selber halten.
Etliche Repräsentant*innen, Abgeordnete sowie Regierungsmitglieder, legen großen Wert auf das Ansehen, das Image, die Popularität und die Anerkennungswerte, die sie seitens der Bevölkerung in Wahlen und demoskopischen Befragungen erhalten. Diese Ausrichtung erweist sich als gefährlich und schädlich, da sie zu populistischem Handeln verführt: Um Rückhalt in der Bevölkerung zu erhalten, ist die Versuchung groß, dem zu folgen und nach dem Munde zu reden, was einzelne einflussreiche Bevölkerungsgruppen tagesaktuell am liebsten bekommen oder hören möchten. Eine derartige marktorientierte Ausrichtung ist üblicherweise weit entfernt vom Allgemeinwohl. Sie kann von der Wirkung her der Diktatur der öffentlichen Meinung entsprechen bzw. dem sogenannten „imperativen Mandat“. Oder, sie entspricht dem, was mächtige Personen oder Gruppen mit Marketing-Propagandamitteln „populär“ machten. Stets erinnern sollten sich alle Deutschen an die „demokratische“ Wahlfrage des NS-Reichspropagandaministers Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Er erhielt tosenden Beifall.
Zu den Problematiken des Strebens nach öffentlicher Anerkennung gehört die Tendenz, sich als möglichst tadellos präsentieren zu wollen. Demzufolge können Politiker in besonderer Weise dazu neigen, Fehler vor allem bei anderen zu sehen und zu verfolgen, während sie die eigenen eher verkennen und vertuschen. Das zeigten die Brüder Grimm eindrucksvoll in ihren Märchengeschichten am Beispiel von König*innen, etwa in „Dornröschen“ oder „Die kluge Bauerntochter“. Die Brüder Grimm waren Juristen; Jacob und Wilhelm halfen mit, die Menschenrechte in Deutschland zu formulieren.
Persönlichkeitskult war und ist stets verfehlt. Nötig sind Leute mit einem auf nachhaltige Lösungen ausgerichteten Verantwortungsbewusstsein, die qualitativ hochwertige Arbeit leisten, nicht solche mit Starallüren, Geltungsdrang und entschlossenem Willen zur Machtausübung über andere. Als Orientierungshilfe kann immer wieder der Vortrag „Politik als Beruf“ des Soziologen, Juristen, National- und Sozialökonomen Max Weber (1864 -1920) dienen.
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