Machtpolitik und Rechtsordnung

Die Fragen, wie und warum jemand „an die Macht kommt“ und wer das eigentlich konkret ist, erweisen sich als ziemlich unwichtig gegenüber der Art und Weise, wie „die Macht“ ausgeübt wird, wie man mit ihr tatsächlich umgeht.(1)

Das wurde zunächst offensichtlich angesichts der Erbmonarchie-Thronfolge. Deren generelle Fragwürdigkeit ergab sich aus zuweilen unerträglichen Erfahrungen mit Persönlichkeiten, die den Anforderungen zweifelsfrei zu wenig gewachsen gewesen waren. Diese Erkenntnis führte zu einem Umdenken: Über allgemeine, gleiche und geheime Wahlen sollte zukünftig die Bevölkerung entscheiden können, welche Kandidaten für öffentliche Ämter über hinreichende Eignung verfügen und Vertrauen verdienen. Erwartungen, dass dieses Verfahren bessere Regierungsarbeit begünstigt als die Erbmonarchie-Thronfolge, führten dazu, die Demokratie als die „bestmögliche Staatsform“ zu propagieren. Doch das, was hier geschaffen wurde, um die Selbstbestimmung der Bürger und optimale politische Entscheidungen zu unterstützen und zu fördern, lag keineswegs stets im Interesse der jeweils bereits Herrschenden. Diesen gelang es immer wieder recht problemlos, Festlegungen zum Wahlrecht sowie zu anderen rechtlichen Regelungen zu den Hauptstellschrauben werden zu lassen, um ihre Besitzstände und Vormachtstellungen zukünftig zu wahren, abzusichern und auszubauen.

So mag sich eine Aussage ergeben haben, die üblicherweise Kurt Tucholsky zugeschrieben wird: „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten.“ Gemeint sein dürfte damit eine uralte soziologische Tatsachenerkenntnis: Das reine Auswechseln von Personen in öffentlichen Positionen bewirkt in der Regel keine wesentlichen Veränderungen in positiver Richtung, da die Inhaber öffentlicher Funktionen Rollenspieler sind, die generell nur über sehr geringe Freiheiten verfügen, anders als ihre Vorgänger zu handeln. Wer tatsächlich anders vorzugehen sich bemüht, der sieht sich bald mit heftigen Widerständen und Kritik konfrontiert. Das führt in der Regel zu einer ansteigenden Stressbelastung, die alternativem Handeln im Wege steht, es enorm erschwert. Wer aufgrund dessen nicht einzulenken bereit ist, der kann mit anderen Mitteln „unschädlich“ gemacht werden, etwa indem ihm „Fehltritte“, eine rufschädigende Affäre oder charakterliche Mängel „nachgewiesen“ werden, die ihn als nicht vertrauenswürdig und damit im Amt „untragbar“ erscheinen lassen. Von auftretender Stressüberforderung bzw. Erschöpfung kann eine plötzliche Erkrankung, möglicherweise auch ein Unfall, mit Todesfolge ausgelöst werden...

Besonders destruktiv wirkt sich aus, dass insbesondere gegen Personen vorgegangen wird, die sich für wirkliche Verbesserungen einsetzen, weniger gegen solche, die zu Veränderungen zum Schlechteren beitragen. Das ergibt sich nahezu zwangsläufig daraus, dass die Inhaber öffentlicher Ämter in der Regel fachlich nicht hinreichend qualifiziert sind, um bessere Arbeit leisten zu können. Generell wünschen sich Menschen eher Entlastungen als Mehrarbeit und steigende Anforderungen. Wer meint, Besseres als andere leisten zu müssen oder zu können, muss damit rechnen, sich als „unsozial eingestellter Streber“ oder „Außenseiter“ bei Vorgesetzten und Kollegen unbeliebt zu machen und irgendwohin „versetzt“ oder „befördert“ zu werden, wo er kein „Ärgernis“ mehr darstellt.(2) Mit Hochachtung und „Solidarität“ (im Sinne von Unterstützung) können und dürfen „Bessere“ oder „Tüchtigere“ in einer von Konkurrenz geprägten Gesellschaft nicht rechnen. Als unterstützungsbedürftig erscheinen hier nur Menschen mit offensichtlichen Defiziten, die hilflos wirken und von daher keineswegs als ernst zu nehmende Konkurrenten in Erscheinung treten.

In Folge dessen sind Konkurrenzgesellschaften zwangsläufig repressiv, destruktiv und von zwischenmenschlichen Tendenzen zu gegenseitiger Feindseligkeit („homo hominis lupus“) geprägt. Das begünstigt Parteienbildung, wobei innerhalb jeder Parteiung ein Höchstmaß an Einigkeit, Solidarität und Zusammenhalt ( Fraktionszwang, Kohäsion) angestrebt wird, um äußere Gefahren und Bedrohungen bestmöglich überstehen zu können. Dazu verhilft maßgeblich ein Wahlrecht, über das verdiente und anerkannte Parteimitglieder sichere Listenplätze erhalten, also ihre Macht- und Parteistabilisierungsfunktionen ziemlich ungefährdet auf lange Zeit fortsetzen können.

Mit jeglichem „demokratischen“ Selbstbestimmungsrecht der Bürger ist es unvereinbar, solche „Volksvertreter“ nicht abwählen zu können und sich gezwungen zu sehen, deren Lebensunterhalt sowie deren sich häufig offensichtlich destruktiv auswirkende Berufstätigkeit großzügig über Steuergelder (mit)finanzieren zu müssen. Zum Leid aller handeln die Abgeordneten und Regierungsmitglieder in der Bundesrepublik Deutschland üblicherweise verfassungswidrig. Auf diesen Missstand hatte zum Beispiel der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis 1997 hingewiesen:

„Verfassungsfragen sind hierzulande [...] – ganz im Gegensatz zu England, Frankreich und Italien – keine Themen, die die „öffentliche Meinung“ interessieren. Da herrscht dumpfe Verdrossenheit, und die Zahl der Journalisten, die mit Kompetenz Verfassungsfragen aufwerfen können, ist klein. Die einschlägigen Wissenschaften tragen das Grundgesetz wie eine Monstranz vor sich her. [...] Die parlamentarische Demokratie, mit ihrer Mitte in einem lebendigen Parlament, ist durch die Machterwerbs- und Machterhaltungsinstitutionen des Parteienstaates überwuchert und verschlissen worden.“ (3)

Dass dies so ist, beruht maßgeblich darauf, dass die Juristen in Deutschland angesichts von speziellen historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen eine besonders große Bereitschaft zeigen, sich als unterwürfige Diener und Mägde der Bedürfnisse und Interessen ihrer Auftraggeber und Klienten zu profilieren, insbesondere zu Gunsten der Macht- und Besitzstandswahrung kirchlicher und weltlicher Herrscher und von deren Instanzen. Die kulturellen Gegebenheiten in anderen Regionen der Erde begünstigten statt dessen das Zustandekommen einer souveränen, universellen juristischen Fachkunde: Was richtig und gerecht ist, woran sich die Justiz und die Rechtswissenschaft zu orientieren haben, dürfen und können nicht Regierende oder andere Auftraggeber von Juristen entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen, Interessen und aktuellen Erkenntnissen zum „Notwendigen“ willkürlich bestimmen und verändern.

Die Beschäftigung mit Recht und Gerechtigkeit gilt seit Jahrtausenden als eine freie Berufstätigkeit und Disziplin. Dies zeigt sich seit der Epoche der Aufklärung in Europa darin, dass ausdrücklich das Prinzip der Gewaltenteilung definiert wurde. Dieses betont, dass staatliche Instanzen nicht willkürlich entscheiden und handeln dürfen, sondern sich einer von ihnen unabhängigen eigenständigen Gesetzgebung und Rechtsprechung unterzuordnen haben. Darauf beruht die Internationalisierung des Rechts gemäß der globalen Ordnung der Vereinten Nationen.

Fußnoten

  • (1) Siehe hierzu "Ausblicke zur Zukunft" sowie Thomas Kahl: Das Projekt „Demokratie global gemäß dem Grundgesetz verwirklichen!“ Eine Erinnerung an demokratische Politikkultur gemäß dem Rule of Law. (Download des Textes hier)
  • (2) Bürokratische Organisationen tendieren systembedingt zu innerer Verfestigung und zu einem „Wachstum“ in unproduktive Richtungen: Peter-Prinzip, Dilbert-Prinzip, Dunning-Kruger-Effekt, Parkinsonsche Gesetze etc.
  • (3) Wilhelm Hennis: Deutschland ist mehr als ein Standort. Parteienherrschaft, Bürokratisierung, Missbrauch des Föderalismus: Der politische Stillstand hat nicht nur ökonomische Ursachen. In: DIE ZEIT Nr. 50, 5.12.1997, S. 6-7.

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